Der Internationale Gerichtshof (IGH) hatte vor einem Monat “sofortige und wirksame Maßnahmen” angeordnet, um die Palästinenser im besetzten Gazastreifen vor einem drohenden Völkermord zu schützen. Trotzdem hat Israel bisher keine Schritte unternommen, um ausreichende humanitäre Hilfe zu gewährleisten.
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Die Anordnung zur Bereitstellung von Hilfsgütern war eine von sechs vorläufigen Maßnahmen, die der Gerichtshof am 26. Januar erlassen hat. Israel hatte einen Monat Zeit, um über die Einhaltung der Anordnung zu berichten. In dieser Zeit hat Israel jedoch seine Verpflichtung als Besatzungsmacht nicht eingehalten und die Grundbedürfnisse der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen nicht sichergestellt. Die israelischen Behörden haben bislang nicht dafür gesorgt, dass lebensnotwendige Güter und Dienstleistungen in ausreichendem Umfang die Bevölkerung in Gaza erreichen, die aufgrund der andauernden Bombardierung und der Verschärfung der seit 16 Jahren andauernden illegalen Blockade von einem Völkermord bedroht ist. Zudem hat Israel nicht sichergestellt, dass Einfuhrbeschränkungen für lebenswichtige Güter aufgehoben, zusätzliche Ausgabestellen und Grenzübergänge für Hilfslieferungen geöffnet und ein wirksames System zum Schutz humanitärer Helfer*innen vor Angriffen eingerichtet werden.
Amnesty International sprach Mitte und Ende Februar mit zehn Mitarbeitern von fünf humanitären Organisationen, die über die schrecklichen Bedingungen im Gazastreifen und die anhaltenden, strengen Zugangsbeschränkungen berichteten. Alle gaben an, dass ihre Möglichkeiten, Hilfsgüter in den und innerhalb des Gazastreifens zu transportieren, seit dem Urteil des Internationalen Gerichtshofs entweder gleich geblieben oder noch schlechter geworden sind.
Im gesamten Gazastreifen wird die humanitäre Katastrophe täglich größer. Am 19. Februar meldeten die im Gazastreifen tätigen humanitären Organisationen, dass die akute Unterernährung im Gazastreifen sprunghaft ansteigt und das Leben von Kindern bedroht: 15,6 Prozent der Kinder unter zwei Jahren im nördlichen Gazastreifen und 5 Prozent der Kinder unter zwei Jahren in Rafah im Süden sind akut unterernährt. Die Geschwindigkeit und Schwere des Rückgangs des Ernährungszustands der Bevölkerung innerhalb von nur drei Monaten sei “weltweit beispiellos”.
Fathia, eine Fachkraft für psychologische Betreuung, berichtete Amnesty International von den Herausforderungen, denen sie sich in ihrer Familie und bei der Arbeit gegenübersieht. Sie beschrieb, wie schwierig es ist, ihrer 78-jährigen Mutter, die seit der Vertreibung eine Form von Demenz entwickelt hat, verständlich zu machen, warum sie nicht genug zu essen haben.
“Meine Söhne verdienen kaum Geld, und wir können nicht einmal Grundnahrungsmittel finden oder uns leisten. Es gibt nichts, und das Wenige, das es gibt, ist unerschwinglich. Meine Mutter kann das nicht begreifen; sie denkt, wir vernachlässigen sie. Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich mir wünsche, dass meine eigene Mutter stirbt, anstatt sie leiden zu sehen, weil sie denkt, wir würden sie vernachlässigen. Überall um mich herum sind Menschen am Boden zerstört, weil sie ihre Kinder, ihre Familien nicht ernähren können. Ich bin nicht in der Lage, ihnen irgendeinen nützlichen Rat oder Unterstützung zu geben, weil ich selbst am Boden zerstört bin”, sagte sie.
“Israel hat nicht nur eine der größten humanitären Krisen der Welt verursacht, sondern auch eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Zivilbevölkerung des Gazastreifens an den Tag gelegt, Israel hat Bedingungen geschaffen, die nach Ansicht des IGH für die Bevölkerung Gazas die unmittelbare Gefahr eines Völkermordes darstellen. Außerdem hat Israel wiederholt versäumt, die von humanitären Organisationen verzweifelt geforderten Mindestmaßnahmen einzuleiten, die eindeutig in Israels Macht stehen, um das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza zu lindern”, sagte Heba Morayef, Regionaldirektorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.
Als Besatzungsmacht ist Israel auf Grundlage des Völkerrechts verpflichtet, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung im Gazastreifen sicherzustellen. Israel hat allerdings die Grundbedürfnisse der Menschen im Gazastreifen nicht gewährleistet und außerdem den Zugang zu ausreichenden Hilfslieferungen in den Gazastreifen blockiert und behindert, insbesondere in den Norden, der praktisch nicht zugänglich ist. Dies stellt eine eindeutige Missachtung des Urteils des Internationalen Gerichtshofs und eine eklatante Verletzung der israelischen Verpflichtung dar, einen Völkermord zu verhindern.
Das Ausmaß und die Schwere der humanitären Katastrophe, die durch Israels andauernde Bombardierung, Zerstörung und Belagerung verursacht wird, bedeutet für mehr als zwei Millionen Palästinenser*innen im Gazastreifen, dass die verursachten Schäden und Verletzungen möglicherweise nie mehr beseitigt werden können.
Bereits vor dem IGH-Urteil waren die Lieferungen, die in den Gazastreifen gelangten, lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein, verglichen mit dem Bedarf in den vergangenen 16 Jahren. In den drei Wochen nach dem IGH-Urteil ging die Zahl der Lastwagen, die Güter in den Gazastreifen transportierten, um ein weiteres Drittel zurück, von durchschnittlich 146 pro Tag in den drei Wochen davor auf durchschnittlich 105 pro Tag in den folgenden drei Wochen. Vor dem 7. Oktober fuhren im Durchschnitt etwa 500 Lastwagen täglich in den Gazastreifen und brachten Hilfs- und Handelsgüter wie Lebensmittel, Wasser, Tierfutter, medizinische Hilfsgüter und Treibstoff dorthin. Selbst diese Menge reichte jedoch bei weitem nicht aus, um den Bedarf der Menschen zu decken. In den drei Wochen nach dem IGH-Urteil gelangten kleinere Mengen Treibstoff, die Israel streng kontrollierte, in den Gazastreifen. Die einzigen Grenzübergänge, deren Öffnung Israel erlaubte, wurden an weniger Tagen geöffnet, was die Missachtung der vorläufigen Maßnahmen durch Israel weiter verdeutlicht. Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen berichteten von zahlreichen Problemen, sagten jedoch, dass Israel sich weigere, Schritte zur Verbesserung der Situation, die möglich wären, einzuleiten.
In dem beim IGH eingereichten Fall argumentierte Südafrika, dass Israels absichtliche Verweigerung humanitärer Hilfe für die palästinensische Bevölkerung eine der verbotenen Handlungen im Sinne der Völkermordkonvention darstellen könnte, indem es “der Gruppe absichtlich Lebensbedingungen auferlegt, die darauf abzielen, ihre physische Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen.”
Hintergrund
Am 7. Oktober 2023 haben die Hamas und andere bewaffnete Gruppen wahllos Raketen abgefeuert, Kämpfer in den Süden Israels geschickt. Nach Angaben der israelischen Behörden wurden mindestens 1.139 Menschen getötet und mehr als 200 Menschen, überwiegend Zivilpersonen, darunter 33 Kinder, von der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen im Gazastreifen als Geiseln genommen. Die vorsätzlichen Massentötungen von Zivilpersonen und die Entführungen und Geiselnahmen stellen Kriegsverbrechen dar. Bis zum 1. Dezember waren 113 Geiseln, die von der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen im Gazastreifen festgehalten wurden, freigelassen worden.
Die heutige humanitäre Katastrophe im besetzten Gazastreifen ist das Ergebnis der seit 16 Jahren andauernden israelischen Blockade und ihrer weiteren Verschärfung nach dem 7. Oktober sowie der wiederholten verheerenden Militäroperationen. Seit 2007 kontrolliert Israel den Luftraum, die Landgrenzen und die Hoheitsgewässer des Gazastreifens und schränkt den Verkehr von Gütern und Menschen in und aus dem Gazastreifen stark ein, was zu einer humanitären Katastrophe geführt hat. Die ohnehin gravierenden humanitären Bedingungen haben sich seit Oktober 2023 so schnell und gravierend verschlechtert, dass die gesamte Bevölkerung nun von einer bewusst herbeigeführten Hungersnot bedroht ist. Israels Blockade ist eine Form der kollektiven Bestrafung und stellt ein Kriegsverbrechen dar.